Für die Familie durch die Verkehrshölle
Job Okachi riskiert jeden Tag auf Nairobis Straßen als Motorradtaxi-Fahrer sein Leben. Seine Touren durch die Millionenmetropole führen an Plätze, wo chinesische Luxusappartements in den Himmel wachsen, wo Menschen fast alles verloren haben und Kühe zwischen Grabsteinen grasen.
Von Christoph Wegener
Job Okachi steht vor einem großen Tor, zwei Sicherheitsleute versperren ihm den Weg. Der 36-Jährige erklärt den Männern, dass er nur kurz einen Kunden abholen will. Sie mustern sein knallrotes Motorrad – und winken ihn schließlich durch. Hinter dem Tor öffnet sich die Straße Msanduku. Hier in Lavington, einem Viertel im Nordwesten von Kenias Hauptstadt Nairobi, reihen sich Villen aneinander. In den Hauseinfahrten glänzt der Lack von Sportwagen in der Morgensonne, Mauern mit Stacheldraht umschließen die weitläufigen Gärten.
Wäre Okachi kein Motorradtaxi-Fahrer, dürfte er den Villen nie so nahe kommen, sagt er. Die Bewohner von Msanduku bleiben unter sich, meiden den Kontakt zu Menschen wie ihm. Der Familienvater besitzt kein Haus mit Garten und keinen Sportwagen. Er teilt sich mit seiner Frau und zwei Kindern eine kleine Wohnung weitab des Villenviertels. Doch selbst die Banker und Manager in Msanduku setzen sich hinter Okachi auf dessen Motorrad, wenn sie schnell Nairobis Straßen durchqueren wollen.
In Kenia werden die Motorradtaxis Boda-Boda genannt. Der Begriff entstand wahrscheinlich im Grenzgebiet zwischen Kenia und Uganda. Menschen wurden hier auf Fahr- oder Motorrädern mit gepolstertem Gepäckträger von Grenze zu Grenze (englisch: Border to Border) transportiert. Heute sind in Nairobi mehr als 100.000 Boda-Boda-Fahrer unterwegs.
Okachi selbst arbeitet seit sieben Jahren in der Stadt, bringt Kunden in Maßanzügen genauso wie die Bewohner von Nairobis Slums ans Ziel. Je nach Strecke kostet eine Fahrt mit ihm nicht mal einen Euro.
Seine Tour durch Kenias Hauptstadt führt zuerst an den Häusern all jener vorbei, die keine Geldsorgen haben. Hier liegen Anwesen, die mit Säulen vor den Eingangstüren und Palmen auf sattgrünem Rasen aussehen, wie aus einem Urlaubskatalog. Hinter Werbeplakaten von chinesischen Immobilienfirmen wachsen neue Luxusappartements in den Himmel. Hohe Glasfassaden, weiße Wände, eine strahlende Zukunft – wenn man es sich leisten kann. In besseren Wohnvierteln von Nairobi wie Lavington und Westlands gibt es viele solcher Baustellen. Asiatische Investoren haben das Potential der wachsenden Millionenmetropole längst für sich erkannt.
Doch die neue Idylle weicht nur zwei Kurven weiter dem Chaos: Okachi biegt auf eine vierspurige Straße ein. Hier kämpfen Autos um jede Lücke, Motorräder und Fußgänger kreuzen die Straße, Busse wechseln ohne Rücksicht auf Verluste die Fahrspur. Motorenlärm mischt sich mit schrillem Hupen und die Abgase brennen in den Augen.
Okachi fährt ganz außen, manövriert nur selten durch den Stau. Viele seiner Kollegen wählen den direkten Weg. Sie seien unerfahren, hätten oft nicht mal einen Führerschein, sagt er. Der 36-Jährige geht selbst kein unnötiges Risiko mehr ein. Seit seine Frau ihren Job als Reinigungskraft verlor, ist er der Alleinversorger der Familie. Er arbeitet jeden Tag – damit seine drei Kinder abends nicht hungrig ins Bett gehen müssen, und um ihre Schulausbildung zu finanzieren. Nur Sonntagmorgens nimmt Okachi sich für zwei Stunden frei und besucht den Gottesdienst.
An einem guten Tag verdient der Familienvater 20 Euro, an einem schlechten rund 3,50 Euro. So oder so reiche es, um seine Familie zu ernähren. Aus seinem Heimatdorf kennt er ein anderes Leben. Ein Leben mit fünf Geschwistern auf dem Land, abseits geteerter Straßen und Hochhäuser. Die Eltern besaßen ein kleines Feld und eine Kuh. Nach dem Schulabschluss zog Okachi wie viele junge Kenianer mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Gepäck nach Nairobi. Er fuhr als Angestellter Taxi und sparte auf ein eigenes Motorrad.
Der Zeitpunkt für den Kauf war günstig. Die kenianische Regierung schaffte 2008 den Einfuhrzoll auf Motorräder bis zu einer bestimmten Hubraumgröße komplett ab, um die Boda-Boda-Branche zu fördern. So konnte Okachi sich ein eigenes Geschäft aufbauen. Auch, wenn ihn das täglich mitten ins Verkehrschaos führt.
Bislang habe er noch keinen Unfall gehabt, sagt der Familienvater und dankt Gott dafür. Doch das kann sich in Nairobi schon an der nächsten Kreuzung ändern: Der Boda-Boda-Fahrer biegt gerade links ab, als ein Bus neben ihm die Kurve schneidet und auf das Motorrad zuhält. Okachi ist eigentlich die Ruhe selbst. Ein schüchterner Mann, der jeden mit einem Lächeln grüßt und oft so leise spricht, dass man ihn kaum versteht.
Doch hier auf der Straße ist kein Platz für Zurückhaltung: Der Motorradfahrer stemmt seinen Arm gegen das tonnenschwere Fahrzeug, hämmert gegen die Seitenwand und schreit gegen den Verkehrslärm an. Der Bus kommt trotzdem immer näher. Okachi spürt die Hitze des Motors auf der Haut, um ihn herum stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Das meterhohe Fahrzeug streift schon den Außenspiegel des Boda-Bodas, als Okachis Rufe endlich das geöffnete Fenster des Fahrers erreichen. Der reißt das Lenkrad herum, umkurvt das Motorrad und rast einfach weiter.
Solche Momente gehören in Nairobi zum Alltag, sagt Okachi und zuckt mit den Schultern. Die neu gebauten Ampelanlagen in der Stadt werden ignoriert, Stoppschilder sowieso. Stattdessen sucht jeder nach dem schnellsten Weg und bremst erst, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Das hat fatale Folgen: Alleine im Jahr 2022 wurden in Kenia mindestens 4690 Verkehrstote gemeldet, fast doppelt so viele wie im selben Zeitraum in Deutschland. Dabei gibt es in der Bundesrepublik rund zehn Mal so viele registrierte Autos und rund 30 Millionen Einwohner mehr.
Am liebsten hätte Okachi einen anderen Job. Als Geschäftsmann im Büro einer Firma, oder sogar mit seinem eigenen Unternehmen. Doch für das eine fehlen ihm die Kontakte, für das andere das Geld. Dabei scheint Nairobi eine Stadt voller Möglichkeiten zu sein: Im Zentrum strecken sich Hochhäuser in den Himmel, internationale Konzerne wie Oracle und PWC haben sich eingerichtet.
Ja, Nairobi ist in den vergangenen Jahren in die Höhe gewachsen, sagt der 36-Jährige. Für ihn sei es aber aussichtslos, sich bei den Firmen zu bewerben. Weil er nicht aus einer einflussreichen Familie komme, und weil er sich die Studiengebühren nicht leisten konnte. Trotzdem sei er froh über die rasante Entwicklung. Vor neuen Firmengebäuden warten schließlich neue Kunden auf Boda-Boda-Fahrer wie ihn.
Andere Bewohner von Nairobi profitieren dagegen nicht vom Wachstum. Im Gegenteil: Der 36-Jährige hält am Rand einer neu gebauten Straße. Rechts der Fahrbahn werden an den Balkonen eines Wohnhauses gerade Glasgeländer eingesetzt, auf der gegenüberliegenden Seite drängen sich Blechhütten aneinander. Dort, wo jetzt die Straße und Neubauten stehen, haben vorher Menschen in ihren selbstgebauten Häuschen gelebt, sagt Okachi. „Aber diese Siedlungen wurden nie offiziell genehmigt. Deswegen hat man sie einfach abgerissen und die Bewohner vertrieben.“
Der Frust der Menschen, die nun im Schatten der neuen Wohnblöcke leben, entlädt sich noch während Okachi erzählt: Zwei Männer steigen über die Betonmauer, kommen auf den Boda-Boda-Fahrer zu und fragen, was er und sein Fahrgast hier zu suchen hätten. Sie stellen sich vor das Motorrad, schreien ihn an.
Immer mehr Menschen versammeln sich um das Boda-Boda. Damit hat Okachi nicht gerechnet. Doch die anderen Bewohner der Slumsiedlung reden nicht wütend auf ihn ein. Sie wollen die beiden aufgebrachten Männer davon überzeugen, den Weg für das Motorrad zu räumen. Es kommt zu einer kurzen Rangelei, dann darf Okachi weiterfahren. Die Lage sei nicht einfach, sagt er an der nächsten Ecke und muss kurz durchatmen.
Auf dem Weg zu seinem nächsten Ziel werden die Schlaglöcher auf der Straße immer größer, die Gitter vor den Fenstern dicker und Okachis Laune immer besser. Im Slum Kawangware angekommen, wird er an jeder Ecke gegrüßt. Die Luft ist erfüllt von dem Rauch der Holzkohleöfen und den Rufen der Händler, die alles von alten Fernsehfernbedienungen bis zu selbstgeschreinerten Bettgestellen verkaufen.
Der Boda-Boda-Fahrer hält vor dem Madiaba Busaa Club. Die Holzbänke im Innenhof sind voll. Männer trinken aus Krügen und Blechdosen fermentiertes Bier, das im Club gebraut wird, auf einem Grill braten große Stücke Ziegenfleisch.
Sofort wird Okachi und seinem Fahrgast ein Platz und ein Bier angeboten, der Kontakt gesucht. Hier sei ein guter Ort, um den Feierabend zu verbringen – aber ein noch besserer, um sich auszutauschen und einen Job für den nächsten Tag zu organisieren, sagt ein junger Mann und stürzt den Rest seines Biers herunter. Noch wisse er nicht, wie er morgen Geld verdienen kann. Eine Sorge, die er und viele andere Tagelöhner hier an den Tischen teilen. Auch Okachi kennt das Leben in ständiger Ungewissheit. Aber inzwischen habe er genug Stammkunden, die ein regelmäßiges Einkommen sichern. Das sei gut für ihn, aber vor allem für seine Familie.
Als es in Strömen zu regnen beginnt, wird es unter dem löchrigen Wellblechdach des Clubs immer voller. Musik krächzt aus kaputten Boxen und die promillehaltige Stimmung macht es fast unmöglich, das eigene Wort zu verstehen. Okachi will weiterfahren, aber er kommt keine 200 Meter weit. An einer engen Straße staut sich der Verkehr. Ein Abwasserkanal ist übergelaufen, hat sich in einen Sturzbach verwandelt, der die Straße blockiert. Bei sowas seien schon Menschen mitgerissen worden und ertrunken. Während andere Boda-Boda-Fahrer sich fluchend durch die Menge drängeln, wartet er gelassen, bis sich die Autos durch den braunen Strom gearbeitet haben.
Zum Abschluss der Tour steuert der Boda-Boda-Fahrer einen „wunderschönen Ort“ in Nairobi an, den er selbst aber noch nie gesehen hat. Auf dem Weg stoppt Okachi spontan an einem Friedhof und deutet auf eine Kuhherde, die zwischen den Grabsteinen und Kreuzen hindurchwandert.
Zwei Jungen in roten Tüchern, die vielleicht zwölf Jahre alt sind, hüten die Tiere. „Die Maasai dürfen ihre Rinder sogar auf dem Rasen des Präsidenten grasen lassen“, sagt Okachi ehrfürchtig. „Das erzählt man sich zumindest.“ Die Angehörigen des Nomadenvolkes stützen sich auf ein einfaches Argument: „Menschen brauchen kein Gras zum Leben, also können es die Rinder fressen.“ Auch in Nairobis Straßenverkehr begegnet Okachi immer wieder Maasai, die ihre Herde durch den Verkehr treiben. Die Tiere sind für viele Familien noch immer ihr wichtigstes Kapital. Selbst in einer Hauptstadt aus Beton und Asphalt, in der viele Grasflächen heute hinter Zäunen und Mauern liegen.
Einige Minuten später erreicht der Boda-Boda-Fahrer das Tor des Nairobi Arboretum Parks. Weil der Eintritt Geld kostet, ist es für ihn der erste Besuch. Vor Okachi öffnet sich eine tiefgrüne Parallelwelt. Der Weg führt an meterhohen Bäumen und akkurat gepflegten Rasenflächen vorbei. Familien liegen zusammen im Gras, Studenten haben es sich mit dem Laptop im Schatten gemütlich gemacht. Alle hier wirken entspannt, nur Okachi nicht.
Er schaut einer Gruppe von Frauen in bunter Fitnesskleidung zu, die im Takt von einem Bein aufs andere Hüpfen. „Die haben ihren Spaß“, sagt der Familienvater mit etwas Wehmut in der Stimme. Irgendwann wolle er mit seinen Kindern auch mal hier hinkommen. Wenn er die Zeit dafür findet – und das Geld.
Auf dem Weg zurück zum Viertel Msanduku bricht aus Okachi der Frust über die ungleichen Lebensverhältnisse in Nairobi heraus. Die Stadt entwickele sich weiter, immer mehr Menschen gehe es gut, aber vielen eben auch nicht. „Und anstelle zu helfen, klammern sich die Reichen an jeden Cent und sitzen entspannt im Park“, sagt der Familienvater. Das könne er nicht verstehen. „Aber ich schaffe es ohne fremde Hilfe, für meine Familie zu sorgen und nur darauf kommt es an“, sagt er und hält vor dem Tor der Straße Msanduku. Okachi verabschiedet sich mit seinem nun wieder breiten Lächeln. Dann verschwindet er im dichten Feierabendverkehr von Nairobi. Der nächste Fahrgast wartet schon.