Das Land der Anderen
Jahrhunderte durchwanderten die Maasai mit ihren Tierherden die Savanne, heute trennen Grenzen und Zäune das weite Land. Einige Maasai halten an ihrer traditionellen Lebensweise fest, andere suchen nach neuen Perspektiven. Wie ein Hotelbesitzer und ein Arzt eine Welt im Wandel erleben.
Von Christoph Wegener
Joseph Tira betreibt drei Hotels am Rande des kenianischen Nationalparks Maasai Mara. Er hat 83 Angestellte und eine Geländewagen-Flotte für Safari-Touren. Für manche in seinem Heimatdorf ist Tira trotzdem ein armer Mann. Jemand, der nichts im Leben erreicht hat. Jemand, dessen Meinung nichts zählt. Denn Joseph Tira ist ein Maasai, der kaum Rinder oder Ziegen besitzt. Die Milch, das Fleisch und das Blut der Tiere waren über Jahrhunderte die Lebensgrundlage des Nomadenvolkes. Bis heute dreht sich für viele Menschen in Tiras Dorf der Alltag um die Viehzucht. Er aber wollte einen anderen Weg gehen. Er sah keine andere Möglichkeit mehr.
An diesem Abend sitzt Joseph Tira auf einer Ledercouch in seinem Wohnzimmer und raucht Wasserpfeife. Auf einem großen Flachbildfernseher läuft ein Fußballspiel der englischen Premier League, draußen reinigen Mitarbeiter in der Dämmerung den Hotelpool. Neben Tira liegt seine Frau und schaut gedankenverloren auf ihr Smartphone. Sie hätte sich früher nie vorstellen können, einmal so zu leben. Ohne Tiere, abseits ihres Heimatdorfes, bekleidet mit Jeans und T-Shirt.
Aufgewachsen ist Tira mitten in der Savanne der Maasai Mara im Südwesten Kenias. Die Grasflächen reichen hier bis zum Horizont, einsame Akazien-Bäume strecken sich in den Himmel, Zebra- und Elefantenherden, Giraffen und Löwenrudel bevölkern das Land. Tiras Leben drehte sich um die große Familie seines Vaters und dessen Tierherde. In der Schule aber öffnete sich eine andere Welt.
Die Lehrer gaben ihm einen Vornamen, damit sie ihn im Unterricht aufrufen konnten. Im Dorf trugen alle den Namen der Familie. Von nun an hieß der Maasai Joseph. Auf Schulausflügen besuchte Joseph Tira zum ersten Mal die Nairobi, die Hauptstadt Kenias. Der Junge war fasziniert von den Straßenzügen aus Stein und Beton, der Hektik und den Bewohnern der Metropole, die kein Vieh besitzen und keine „Shuka“ tragen. In Nairobi wurde er in der meist leuchtend roten Kleidung der Maasai abschätzig angeschaut, erinnert sich Tira. „Die Menschen behandelten dich, als wärst du ein Wilder aus dem Busch.“
Nach dem Schulabschluss musste er entscheiden, wie sein Leben weitergeht. Für seinen Vater war es ein ständiger Kampf, die eigene Familie durch die Viehzucht zu ernähren, sagt Tira und betont: „Die Maasai können sich auf traditionelle Weise kaum mehr ein gutes Leben aufbauen.“ Er erzählt von der Vergangenheit. Von einer Zeit, in der die Maasai ihre Herden durch das große Gebiet der Mara über die Grenze nach Tansania trieben. In der es keine Zäune gab und genug Platz, um Hunderte von Tieren auch in der Trockenzeit zu ernähren.
Doch im vergangenen Jahrhundert wurde die Welt der Maasai immer kleiner. Zuerst privatisierten die britischen Kolonialbesatzer Teile der Savanne. Sie zogen Grenzen und Zäune, bauten ihre Häuser zwischen Wildtierpfaden und vererbten das annektierte Land. Als Kenia 1963 seine Unabhängigkeit erlangte, förderte die kenianische Regierung die Bildung von Gruppenfarmen. In der Theorie profitierten davon beide Seiten. Die Maasai bekamen die Möglichkeit, weiterhin Land zu besitzen und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Zum Beispiel, indem sie die Flächen verpachteten, die dann nach Konzept der kenianischen Regierung in Tierschutzgebiete umgewandelt werden sollten. So wollte man die Artenvielfalt im Land sichern und Safari-Touristen anlocken.
Für die Maasai verschärfte sich die Situation jedoch. Wohlhabende Privatpersonen kauften armen Familien Land ab, den Maasai blieb zwischen weitläufigen Farmen und Touristenunterkünften immer weniger Platz. Große Herden konnten sie auf den schrumpfenden Grasflächen nicht mehr ernähren. Je weniger Tiere die Maasai besaßen, desto mehr verschlechterte sich ihre wirtschaftliche Lage.
Gleichzeitig nahmen aber immer mehr Touristen den Weg durch den Busch auf sich, um die reiche Tierwelt der Maasai Mara zu sehen. Sie machten auch im Heimatdorf von Joseph Tira Halt. Der erkannte seine Chance: Er sparte auf einen alten Landrover, brachte Touristen zu ihren Lodges und leitete Safari-Touren. Dabei profitierte der Maasai vom Wissen, das seit Generationen in seiner Familie weitergegeben wurde. Er kannte die Stellen, an denen Löwen in der Savanne ihre Jungen bekommen und Büffelherden den Fluss überqueren.
In den kommenden zehn Jahren wurde Tira zu einem gefragten Touristenführer. Der Maasai trug nun geschlossene Schuhe und Hosen, um in der Geschäftswelt ernstgenommen zu werden. Für die Michigan Universität sammelte er Daten über die Elefanten in der Mara, lernte den Umgang mit Computerprogrammen, bekam schließlich ein Forschungsstipendium und reiste in die USA.
Tira blieb drei Monate in den Staaten und fasste nach seiner Rückkehr einen Entschluss: Wenn die Menschen dort ganz ohne Vieh Leben können, ist das auch bei ihm im Dorf möglich.
Der Maasai verkaufte große Teile seiner Herde und baute fünf Unterkünfte am Rande des Nationalparks in der Stadt Talek. Seine Frau unterstützte diesen Plan nicht. Sie hatte Angst, dass ihre Familie in der Dorfgemeinschaft an Ansehen verliert. Die beiden fanden einen Kompromiss: Tira verkaufte ihr einen Teil der Tiere und kümmerte sich um sein Hotel, sie blieb im Dorf. Heute wohnt die Familie gemeinsam in Tiras Hotel. Auch seine Frau habe erkannt, dass sie einen neuen Weg einschlagen muss, um den drei Kindern eine gute Zukunft zu bieten, sagt er. Sie sei nicht die Einzige. „Die Menschen kommen und fragen, ob ich ihre Söhne und Töchter anstellen kann.“ Selbst Tiras 93-jähriger Großvater habe die neue Lebensweise akzeptiert, auch wenn es ihm nicht gefalle, dass sein Enkel Autos kauft anstelle Rinder. „Ihr seid eine neue Generation und müsst euren eigenen Weg finden“, habe er zu seinem Enkel gesagt.
Trotz aller Veränderungen achtet Joseph Tira darauf, die Traditionen der Maasai weiter aufrechtzuerhalten. Er trägt gerne seine rote „Shuka“, gibt die Rituale und die Sprache der Maasai an seine Kinder weiter, damit nichts verloren geht. Gleichzeitig führt Tira sie in das Geschäft ein: Sein Sohn studiert Business Management, die Tochter leitet eins der drei Hotels. „Es ist wichtig, beide Welten zu verbinden. Nur so können wir als Maasai weiter bestehen“, ist Tira sich sicher.
Der Arzt John Sankok erkannte das bereits vor mehr als 30 Jahren. In seinem Büro stapeln sich medizinische Fachbücher in den Regalen, ständig klingelt sein Telefon, oder jemand klopft an der Tür. Sankok koordiniert die Gesundheitsversorgung von Zehntausenden Menschen in der Region Narok, zu der auch die Maasai Mara zählt. „Wir bringen Gesundheitsversorgung zu den Maasai“, fasst er die Arbeit der Organisation Community Health Partners (CHP) zusammen, die von ihm 2011 mitgegründet wurde.
Sankoks Frau Grace führt durch die Hauptklinik der CHP, zeigt die Behandlungsräume, die Labore und die hauseigene Apotheke. In einem sterilen Raum liegt eine junge Frau erschöpft im Bett, hält ihr neugeborenes Kind im Arm. Um sie herum hat sich die Familie versammelt. Alle tragen kunstvoll gefertigte Ketten, Armreifen und ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Immer mehr Maasai kommen für die Geburt ins Krankenhaus, sagt Grace Sankok. „Selbst die Männer sind inzwischen dabei und vertrauen uns. Das war früher vielleicht bei einer von 100 Geburten der Fall.“ Traditionell erblicken die Kinder in der Hütte im Dorf das Licht der Welt, Geburtsbegleiterinnen kümmern sich um die Mutter. Wenn es aber zu Komplikationen kommt, endet das tödlich für viele Neugeborene und Frauen, wie John Sankok sagt. Er selbst hat das als junger Mann oft genug erlebt – und wollte den Menschen helfen.
Missionare finanzierten seine Ausbildung an der kenianischen Krankenpflegerschule. Als Sankok 1990 mit dem Abschluss in der Tasche nach Hause zurückkehrte, wurde er aber nicht nur zum Geburtshelfer. Zu Fuß lief er oft Stunden von Dorf zu Dorf, leistete nach Unfällen oder Angriffen von Löwen und Büffeln erste Hilfe, behandelte gebrochene Knochen, verabreichte Antibiotika.
Er versuchte die anderen Maasai davon zu überzeugen, dass es Alternativen zu ihrer traditionellen Medizin gibt, die etwa aus Wildkräutern hergestellt wird. Zudem unterstütze Sankok die Missionare dabei, ihre kleine Klinik weiter auszubauen. Ein Auto wurde angeschafft, neue Gebäude konnten über Spenden finanziert und mehr Personal eingestellt werden. Sankok studierte Medizin und übernahm die Leitung der Klinik.
Inzwischen arbeiten im Hauptsitz der CHP 42 medizinische Fachkräfte, die Gesundheitsorganisation hat sieben Standorte in der Region Narok. Patienten bezahlen für die Untersuchung und die Medikamente. Hat jemand kein Geld, verzichtet das Krankenhaus auf die Gebühren. Sie können später nachgezahlt werden. „Wir weisen niemanden ab, der krank ist“, betont Sankok. „Aber wir müssen auch ein nachhaltiges Geschäftsmodell aufbauen.“ Der Maasai versucht stetig das Behandlungsangebot auszuweiten, kontaktiert Hilfsorganisationen, legt Geschäftspläne und die Leistungen der CHP-Kliniken vor. In der weitläufigen Savanne ein Krankenhaus zu leiten, sei schwierig: Oft fehle es an Personal oder Medikamenten. Im schlimmsten Fall müssen Patienten in medizinische Einrichtungen gebracht werden, die Stunden entfernt sind.
Über die Jahre hat die CHP es trotzdem geschafft, die Sterblichkeitsrate in Narok deutlich zu senken, betont der Arzt. Die Arbeit beginnt mit der Betreuung vor, während und nach der Geburt: Mediziner stehen Mutter und Baby zur Seite, die Frauen sollen mindestens vier Stunden unter Aufsicht im Krankenhaus bleiben. Routineimpfungen gegen Polio und Tuberkulose werden verabreicht, die Eltern über die richtige Ernährung aufgeklärt. Was medizinische Grundlagen sind, kann in der Gesellschaftsstruktur der Maasai jedoch zum Problem werden: „Wir dürfen den Geburtsbegleiterinnen nicht ihre Lebensgrundlage entziehen. Sie arbeiten seit Jahrzehnten in diesem Bereich und werden dafür zum Beispiel mit Fleisch oder einer lebenden Ziege bezahlt“, sagt Sankok. „Veränderung ist wichtig, aber die Menschen dürfen in diesem Prozess nicht zurückgelassen werden.“
Vor den Behandlungszimmern der Klinik sitzen Maasai und warten auf den Arzt, in einem Schrank stapeln sich Hunderte Patientenakten, wöchentlich kommen neue hinzu. Dass immer mehr Menschen die Hilfe der CHP in Anspruch nehmen, ist vor allem den lokalen Ansprechpartnern in den Dörfern zu verdanken. Ansprechpartnern wie Ben Liaram. Er arbeitet seit einigen Jahren mit der CHP zusammen. Durch die medizinische Betreuung habe sich die Zahl der Bewohner in seiner Heimatregion von 1000 auf 10.000 Menschen verzehnfacht. Liaram wirbt unermüdlich in den Dörfern für den Klinikbesuch. „Hilfe ist endlich schnell erreichbar. Kein Kind muss mehr früh sterben, niemand lange an einer unbekannten Krankheit leiden“, sagt er. Besonders Malaria und verunreinigtes Trinkwasser würden die Menschen in der Savanne vor Probleme stellen.
Liaram führt durch ein kleines Dorf in der Nähe der Stadt Talek. Kinder laufen lachend zwischen den Lehmhütten hindurch, Ziegen grasen, der Blick verliert sich in der Weite der Maasai Mara. Vor einer Hütte sitzt Sairouwa. Sie hat sechs Kinder, der älteste Sohn ist 17 Jahre alt. Alle Kinder wurden im Krankenhaus der CHP geboren und sind wohlauf. Es verändert sich viel, sagt die Mutter. Die bessere Gesundheitsversorgung in der Region sei ein Segen, anderes dagegen nicht.
Die Maasai knüpft gerade ein Perlenarmband. Die Herstellungsweise ist traditionell, der Grund für ihre Arbeit ist es nicht: Sie muss die Armbänder an Touristen verkaufen, um ihre Kinder zu ernähren. Die Viehzucht bleibe die wichtigste Einkommensquelle für ihre Familie und soll die Unabhängigkeit vom Geld ausländischer Besucher garantieren. Aber durch die zunehmende Trockenheit in den vergangenen Jahren seien viele Tiere gestorben. Deswegen freue Sairouwa sich über jeden Touristen, der ins Dorf kommt, Fotos macht und ihren Schmuck kauft.
Das sieht auch Pushati so. Der 70-Jährige sitzt vor einem Zaun aus Holzpflöcken einige Meter entfernt und fertigt ein kleines Schild aus Kuhhaut. Er steht langsam auf, und zeigt wie ein Krieger das traditionelle Wappenschild richtig hält, das auch auf der kenianischen Flagge abgebildet ist. Der Maasai weiß, was Touristen sehen wollen. Früher lebte Pushati selbst nur mit und von der Natur. Sein Sohn Alex erzählt stolz, dass sein Vater ein tapferer Krieger gewesen sei. Er habe schon in jungen Jahren den ersten Löwen mit dem Speer getötet, um sich zu beweisen. Es folgten weitere Kämpfe, die Trophäen trägt Pushati in Form der Krallen noch immer bei sich. Heute wäre all das nicht mehr möglich, das Töten eines Löwen würde eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen.
Der 26-jährige Alex trägt wie sein Vater die „Shuka“ aus rotem Stoff und einen Hirtenstock. Das Land seines Dorfes sei sicher, weil sich Stammesoberhäupter dafür einsetzen, dass es nicht verkauft wird. In vielen anderen Gegenden sei das anders: Die Männer nehmen Bestechungsgelder an, geben ihren Landbesitz ab, ohne das die Familie mitentscheiden kann. „Zeiten ändern sich nun einmal“, sagt der junge Mann und schaut kurz auf sein Handy. Es sei wichtig, dass die Frauen und ihre Neugeborenen medizinisch betreut und Männer inzwischen mehr für die Familie da seien. Und es sei okay, dass Touristen mit den Geländewagen durch die Dörfer fahren. „Die Menschen wollen unsere Traditionen sehen und wir können sie dadurch aufrecht erhalten“, sagt der junge Maasai. „Nur darauf kommt es an.“