Der coolste Club im Linienbus
Die Einwohner Nairobis nutzen seit Jahrzehnten Matatu-Busse, um Kenias Hauptstadt zu durchqueren. Doch die Fahrzeuge sind mehr als ein günstiges Verkehrsmittel: Außen kunstvoll bemalt, innen mit Flachbildfernsehern und Musikanlagen ausgestattet, ist ein Kult rund um die Matatus entstanden. Ein ohrenbetäubender Selbstversuch.
Von Christoph Wegener
Wie viel Bass hält mein Trommelfell aus, bis es platzt? Diese Frage habe ich mir schon auf Metal-Konzerten oder Techno-Raves gestellt – aber bestimmt nicht im Bus. Eigentlich dachte ich, die Fahrt in das Stadtzentrum von Nairobi wird entspannt. Doch als sich die Bustüren schließen, dröhnt so laut Musik aus den Boxen neben mir, dass es wehtut. Ich krame in meinem Rucksack, finde ein Taschentuch, zerreiße es und stopfe mir die Stücke in die Ohren. Der improvisierte Gehörschutz funktioniert. Zeit, sich umzuschauen.
Deutsche Busse verströmen dank grauer Fußböden und eigenwillig gemusterter Sitze den Charme eines Versicherungsbüros. Dieser Bus ist der direkte Gegenentwurf: Im Innenraum reihen sich Flachbildschirme aneinander auf denen Frauen in Bikinis, Sportwagen und mit Goldketten behängte Rapper zu sehen sind. Laserstrahlen schießen im Takt der Musik durch den Gang, Glitzerfolie an den Fenstern leuchtet in Neonfarben. Hier könnte die Party des Jahres steigen. Aber niemand feiert, niemand tanzt.
Die Menschen schauen auf ihr Smartphone oder aus dem Fenster. Was man auf dem Weg zur Arbeit eben so macht. Nur einer hat sichtlich Spaß: „Großartig, oder?“, ruft Brian Wanyama und nickt lachend im Rhythmus der Musik. Ich zeige mit dem Daumen nach oben, aber bin kurz nach dem Frühstück bedingt in Partystimmung. Wanyama beschäftigt sich seit Jahren mit den Linienbussen, die in Kenia Matatus genannt werden. Er entwirft Designs für die Fahrzeuge, fotografiert die schönsten Modelle und lädt die Bilder auf seiner Instagram-Seite hoch, der mehr als 370.000 Menschen folgen. Matatus seien Kenias „rollendes Kulturgut“. Um das zu beweisen, führt der 31-Jährige mich direkt ins Zentrum von Nairobi.
Wir steigen an einer großen Kreuzung aus und ich werfe einen letzten Blick auf unser Matatu, bevor es mit quietschenden Reifen seine Tour fortsetzt. Der Lack glänzt silber-metallic, Graffiti der Box-Legende Mohammed Ali überziehen die Karosserie. Zwischen rostigen Autos und hölzernen Handkarren auf der Straße wirkt der Bus wie ein Raumschiff. Das gilt auch für andere Matatus, die hier im Minutentakt halten.
Ein überlebensgroßes Bild des Fußballers Christiano Ronaldo rollt vorbei, auf einem lilafarbenen Bus leuchten detaillierte Zeichnungen von japanischen Anime-Figuren. Es gibt einen Fanbus von Borussia Dortmund, und selbst Politiker wie Wladimir Putin wurden auf die Fahrzeuge gemalt. „Jeder will auffallen und zum Gespräch werden – auch mit kontroversen Motiven“, sagt Wanyama. Die Busse sind ein Spiegelbild der Popkultur. Was bei den Jugendlichen in ist und sie beschäftigt, landet früher oder später auf einem Matatu.
In den Anfangszeiten der Busse sah das noch anders aus. Matatu bezieht sich auf den früheren Preis für eine Fahrkarte und bedeutet sinngemäß „drei“. Die Fahrgäste zahlten in den 60er Jahren drei Mal zehn Cent, als das Geschäft mit den Bussen ins Rollen kam. Damals unterschieden sich die Fahrzeuge nur in ihrer Größe und machten dem organisierten Transportsystem des „Kenya Bus Service“ schnell Konkurrenz. Sie hatten flexiblere Fahrzeiten und waren günstiger. In den folgenden Jahren begannen die Besitzer, ihre Matatus aufzumotzen: Weiße Karosserien wurden zur Leinwand, die Busse bekamen eigene Namen.
Rund 4000 Matatus gibt es heute in der kenianischen Hauptstadt, schätzt Brian Wanyama. Der Konkurrenzdruck ist hoch: Wer auffallen will, muss sich den wartenden Fahrgästen am Straßenrand spektakulär präsentieren. Die Busse ändern deswegen regelmäßig ihr Aussehen, erzählt der 31-Jährige. Einmal im Jahr werden sie von der Verkehrsbehörde geprüft. An diesem Tag gibt man sich bemüht zahm: Keine lauten Musikanlagen, kein Spoiler am Heck, oder grelle Scheinwerfer. Nach der Kontrolle geht es zurück in die Tuning-Werkstatt. Neuer Look, neue Chancen, die Fahrgäste von sich zu überzeugen. Der Fahrpreis variiert je nach Fahrzeug. In einem alten Bus zahlen Passagiere etwa 40 Cent, die angesagtesten Modelle kosten bisweilen das Vierfache.
Der Kampf um die Kundschaft beginnt schon, bevor der Bus anhält. Mit durchdringendem Hupen kündigen sich die Matatus an. Aus den geöffneten Türen hängen sogenannte Conductor (englisch für Schaffner). Sie hämmern mit der Hand gegen die Seitenwand des Busses, wollen potentielle Fahrgäste zum Einsteigen bewegen.
Gerade rollt der Bus von Kelvin Kamari an mir vorbei. Kamari springt aus der Tür, klatscht laut in die Hände und macht auf das Matatu aufmerksam. Als ob das notwendig wäre. Das knallrote Fahrzeug zieht alle Blicke auf sich. Es hat sogar außen an der Karosserie eingebaute Flachbildschirme. Schnell finden sich erste junge Fahrgäste, die in den Bus drängen. Sie haben extra auf die Ankunft eines der angesagtesten Modelle in Nairobi gewartet haben.
Kelvin Kamari, den alle hier wegen seiner Rasta-Locken Marley nennen, arbeitet seit acht Jahren als Conductor. Er liebt den Job, sagt der 26-Jährige. Aufgeregt führt er mich um den Bus, verquatscht sich dabei mit Freunden und Stammkunden. Der direkte Kontakt zu den Fahrgästen sei der wichtigste und schönste Teil des Berufs. Es ist Marleys Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Passagiere eine gute Zeit haben. Gleichzeitig ist er für ihre Sicherheit verantwortlich. „Wer sich nicht benimmt, fliegt raus“, sagt der 26-Jährige.
Die Matatus seien zu einem wichtigen ökonomischen Faktor in der kenianischen Gesellschaft geworden, sagt Brian Wanyama. Auch junge Männer ohne Ausbildung fänden hier leicht einen Job. „Zudem müssen die Fahrzeuge gewartet, repariert und umgebaut werden. Die Branche wächst immer weiter.“ Einfach ist die Arbeit an Bord der Busse allerdings nicht: Die Matatus werden von Privatpersonen betrieben, die viel Geld investieren. Die Busbesatzung muss am Tag einen festgelegten Mindestbetrag erwirtschaften. Alle Einnahmen, die darüber hinausgehen, teilen sich die Mitarbeiter. Um mehr zu verdienen, rasen die Matatu-Fahrer teils übermüdet durch die Stadt. Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen. „Wegen besser ausgebauter Straßen sind die Fahrten aber deutlich sicherer geworden“, betont Wanyama.
Zudem hat die Matatu-Industrie sich in den vergangenen Jahren immer besser strukturiert. Es gibt eingetragene Vereine, die auch politisch aktiv sind und Lobbyarbeit betrieben. Für die verschiedenen Routen durch Nairobi haben sich sogenannte Saccos gebildet, unter denen die Busse registriert sind. Das soll für zusätzliche Sicherheit in der Branche sorgen. Als beispielsweise im Jahr 2022 eine Frau in einem Matatu belästigt wurde, entzog man dem Sacco des dort eingetragenen Busses für einige Zeit die Transportlizenz. Brian Wanyama geht mit Blick auf solche Verbesserungen davon aus, dass die Matatus nicht nur ein unverzichtbares Transportmittel in Nairobi bleiben, sondern irgendwann zu einer echten Touristenattraktion werden.
Gemeinsam steigen wir in das leuchtend rote Matatu ein, für das Marleys immer noch lautstark wirbt. Wieder flackern mir grelles Licht und Flachbildfernseher entgegen, wieder dröhnt die Musik in den Ohren. Dieses Mal lasse ich mich mehr darauf ein: Ich nicke mit Brian Wanyama im Takt des pumpenden Basses, lasse mich von den Musikvideos berieseln. Und tatsächlich komme ich mit jeder Minute mehr in Partystimmung, denke nicht mehr an den nächsten Termin. Einfach ein bisschen im Sitzen feiern, sich von der knalligen Aufmachung, der treibenden Musik und der guten Laune von Marley anstecken lassen, der johlend vorne im Gang tanzt. Die ohrenbetäubende Auszeit tut erstaunlich gut.
„Viele Jugendliche fahren abends nur mit dem Matatu, weil man hier günstig feiern kann“, sagt Wanyama. Zudem seien die Busse ein Anker der Musikkultur in Nairobi. Viele Kenianer entdecken in den Matatus neue Künstler und deren Lieder. „Aber es gibt natürlich auch Busse ohne Musik, mit mehr Beinfreiheit und mit Sitzen für behinderte Fahrgäste“, betont Wanyama. „Wenn du ein Matatu brauchst, sind sie für dich da. Das macht sie so wertvoll für die Menschen.“