Das Leiden und Lieben der Elefantenwaisen
In der Aufzuchtstation der Organisation Sheldrick Wildlife Trusts werden im Nairobi Nationalpark kleine Elefanten auf die Rückkehr in die Wildnis vorbereitet. Warum Trauer für die Jungtiere gefährlich sein kann und wie sie ihre Lebensfreude wiederfinden.
Von Christoph Wegener
Einmal am Tag spielt Edwin Lusichi im Elefantenwaisenhaus den Zirkusdirektor. Dann steht er vor einer Besuchergruppe, stellt seine Schützlinge vor und erzählt ihre Lebensgeschichte. Er spricht über Verlust, Hunger, Traumata und Gewalt. Seine Stimme geht im vergnügten Lachen der Touristen unter. Sie beobachten, wie die kleinen Elefanten im Wasserloch baden und mit ihrem Rüssel rotbraunen Staub auf dem Rücken verteilen.
Erst als die Tiere von den Pflegern abgeholt werden, kehrt Ruhe ein. „Sie alle hier haben die Möglichkeit, unsere Waisen mit ihren Spenden zu unterstützen und ihre Paten zu werden“, sagt Lusichi. Nur deswegen führt er die kleinen Elefanten einmal am Tag in der Aufzuchtstation des Sheldrick Wildlife Trust (SWT) vor. Es geht nicht um belustigte Besucher, sondern das Überleben der Waisen.
Zwei Stunden zuvor wandert die Gruppe aus 28 Jungtieren in Richtung Savanne. Lusichi und die anderen Pfleger halten Abstand. Der Wind rauscht in den Baumkronen, schriller Vogelgesang schallt durch den Wald. Von den Elefanten, die Hunderte Kilo wiegen, ist kaum etwas zu hören. Sanft bewegen sich die Tiere zwischen den Bäumen hindurch, steigen über Äste und Wurzeln in ihrem Weg.
An der Spitze der Herde gibt Neshashi als ältestes Weibchen die Richtung vor. Sie ist nur viereinhalb Jahre alt, nicht mehr als ein Wimpernschlag im Elefantenleben. In der Wildnis hätte die Elefantenkuh noch Jahre, um in ihre Führungsrolle hineinzuwachsen. Doch auf die Erfahrung älterer Elefanten kann in der Gruppe niemand mehr zählen. Die Jungtiere haben ihre Mutter verloren oder wurden von der eigenen Herde zurückgelassen.
Dass die teils wenige Monate alten Elefanten dennoch eine Zukunft haben, verdanken sie der Rettung durch die Ranger der Tierschutzorganisation SWT, wie Lusichi betont. „Auf sich alleingestellt, hätte keiner von ihnen überlebt.“
Der Chefpfleger arbeitet seit über zehn Jahren im Waisenhaus, verbringt fast jeden Tag mit den kleinen Elefanten. Wenn ein Waise stirbt, sei es, wie das eigene Kind zu verlieren, sagt der 45-Jährige. Das Schicksal der Eltern geht ihm ebenso nahe. Viele der Tiere seien verhungert oder verdurstet.
Dabei ist Kenia eigentlich auf einem guten Weg. Jahrzehnte waren die Tiere im ostafrikanischen Land Freiwild: Von den 70er Jahren bis 1989 sank die Elefanten-Population wegen Wilderei nach Angaben der Kenianischen Regierung um 90 Prozent. Damals streiften etwa 16.000 Elefanten durch die Savannen des Landes. Inzwischen erholen sich die Bestände, auch, weil die Regierung die Tiere in den Parks konsequenter schützt. Heute patrouillieren Ranger durch die Wildnis, vor den Eingangstoren der Nationalparks stehen bewaffnete Soldaten. Die kenianische Wildtierbehörde zählte 2021 insgesamt 36.169 Elefanten im Land. Wegen der Corona-Pandemie gingen die Fälle von Wilderei noch einmal stärker zurück. Flughäfen waren geschlossen, Grenzen wurden streng kontrolliert.
Trotzdem trägt die zweieinhalbjährige Latika helle Narben an ihrem Hals. Sie stammen vom Draht einer Schlingfalle, der das Jungtier einschnürte, als Ranger sie fanden. Normalerweise zieht sich der Draht so fest, dass die Tiere daran sterben. Latika hatte Glück. Heute tobt sie ausgelassen zwischen den anderen Elefanten hindurch.
Es erfordert viel Zeit und Zuneigung, bis die Waisen wieder so unbeschwert leben können. Die Pfleger sind immer in ihrer Nähe, füttern die Tiere alle drei Stunden und weisen sie mit sanfter Stimme und leisem Klatschen zurecht. „Elefanten sind von Natur aus sehr sensitive Wesen. Sie trauern um ihre Toten und vergessen nie. Erst recht nicht traumatische Erlebnisse“, sagt Lusichi. Schicksalsschläge können dafür sorgen, dass die Jungtiere den Appetit verlieren, erkranken und sterben, sagt er.
Mit Lusichi sind 50 Pfleger in Schichten Tag und Nacht in der Nähe der Elefanten. Die Männer und Frauen begleiten die Waisen, während sie sich in die Savanne hinauswagen, die hier in sanften Grün- und Brauntönen bis zum Horizont reicht. Die Elefanten können gehen, wohin sie wollen. Sie sollen ihre eigenen Entscheidungen treffen und lernen, sich in der Wildnis und in einer Herde zurecht zu finden. Verspielt rempeln sich die Tiere an, messen ihre Kräfte, schlagen auch mal über die Stränge, aber bekommen schnell von den älteren Elefanten ihre Grenzen aufgezeigt.
Als die Fütterungszeit beginnt, ist jeglicher Herdenzusammenhalt allerdings vergessen. Mit wehenden Ohren und schlackernden Rüsseln wird die nächste Flasche gesucht. Mehr als 24 Liter Milch brauchen die Waisen am Tag. Die Fütterung und gewünschte Streicheleinheiten übernehmen die Pfleger abwechselnd, damit die Jungtiere nicht auf eine Person fixiert sind. Lusichi erzählt von Fällen, in denen Elefanten nach der Trennung von ihrer Bezugsperson jeglichen Lebenswillen verloren. Das wolle er um jeden Preis verhindern.
Drei größere Elefanten laufen alleine in Richtung eines aufgebauten Hängers, wo Milchflaschen auf sie warten. Die Tiere werden bald auf eine mehr als fünfstündige Reise gehen und sollen sich an den Transporter gewöhnen. Sie sind alt genug, um vom Waisenhaus in den Tsavo-East-Nationalpark verlegt zu werden. Der Nairobi Nationalpark ist für ausgewachsene Elefanten zu klein, deswegen dient er dem SWT als Kinderstube.
Normalerweise bleiben die Waisen drei bis vier Jahre in der Obhut von Lusichi und seinen Mitarbeitern. Dann werden sie unter anderem im Park von Tsavo weiter beaufsichtigt, lernen mit wilden oder ausgewilderten Elefanten zurecht zu kommen, müssen ihr Vertrauen gewinnen und in eine Herde aufgenommen werden. Manche Waisen knüpfen aber bereits im Nairobi Nationalpark Freundschaften. Sie werden gemeinsam im Park freigelassen. Bis die Tiere wirklich wild sind, können nach Lusichi rund zehn Jahre vergehen. Pro Monat koste es etwa 900 Euro, einen Elefanten aufzuziehen. Der Sheldrick Wildlife Trust finanziert seine Arbeit rein über Spenden. Das funktionierte selbst in der Corona-Pandemie, sagt Lusichi. Die Organisation präsentiert ihre Waisen auch online in Videos und Fotos, veröffentlicht regelmäßig Blogeinträge.
In den vergangenen 35 Jahren hat die Organisation nach eigenen Angaben mehr als 300 Waisen aufgezogen und erfolgreich ausgewildert. 22 Rangerteams sind überall in Kenia im Einsatz. Es gibt mobile Tierärzte, Piloten, die aus der Luft nach hilfsbedürftigen Tieren suchen und Mitarbeiter, die in Dörfern Aufklärungsarbeit leisten.
Nach der Fütterung der Waisen lichtet sich der Busch am Rande des Nairobi Nationalparks. Titus Munywoki sitzt im Schatten eines Baumes einige Meter von der Herde entfernt. Der 26-Jährige arbeitet seit wenigen Monaten für das Elefantenwaisenhaus. Vorher schlug er sich als Tagelöhner durch, jetzt hat er ein festes Einkommen. Munywoki wuchs in einem kleinen Dorf mitten in der Savanne auf, Elefanten waren immer Teil seines Lebens. Mit lauten Trommeln hielten er und die anderen Dorfbewohner die Herden von ihren Feldern fern. Jetzt kommt er den Tieren jeden Tag ganz nah.
Der junge Mann lehnt sich im Schatten des Baumes zurück, genießt die Ruhe, die Landschaft und den Anblick der 28 Waisen, die durch das hohe Gras wandern. Die Tiere haben ihn schon immer fasziniert, nicht nur wegen ihrer imposanten Erscheinung. „Sie halten eng zusammen und verraten oder betrügen die anderen nicht“, sagt Munywoki. „Davon können wir Menschen uns viel abgucken.“
Die Arbeit als Pfleger sei hart und erfordere Mut. Etwa, wenn Neuankömmlinge, die schlimme Erfahrungen mit Menschen gemacht haben, erst Vertrauen schöpfen müssen. Doch mit viel Liebe und Geduld zeigen auch diese jungen Elefanten irgendwann ihre sanfte Seite, sagt Munywoki. Lusichi nickt. Nur Menschen, die wirklich alles für die Elefanten geben wollen, könnten hier im Waisenhaus arbeiten.
Dabei sei es egal aus welcher Schicht man kommt oder welche Ausbildung man hat. Wichtig sei nur, den Tieren Respekt und Zuneigung entgegenzubringen. „Nicht weniger haben sie verdient“, sagt Lusichi.